Die für das Lötschental typischen, maskierten Fasnachtsgestalten, die sogenannten Tschäggättä, treten in der Zeit zwischen dem katholischen Feiertag «Maria Lichtmess» und dem «Gigiszischtag» (d.h. dem Dienstag vor dem Aschermittwoch) auf. Bild © Valais/Wallis Promotion
«Ver-rückte Welten»
Lautstark und mit grossem Getöse übernehmen die Fasnächtler und Fasnächtlerinnen jedes Jahr vor Beginn der Fastenzeit für wenige Tage das Zepter. Es werden Masken aufgesetzt, die keinem Schönheitsideal entsprechen und Kleider getragen, die weder modisch sind noch irgendwelchen Lifestyle-Konventionen folgen. Es werden aber nicht nur die Schönheitsvorstellungen und ästhetische Kriterien auf den Kopf gestellt. Es geht auch darum, die bestehenden Machtverhältnisse zu verrücken, d.h. komplett umzustellen. Die Herrschenden und Mächtigen werden gnadenlos lächerlich gemacht, neue Prinzessinnen und Könige installiert, die sog. «No-Names» dürfen auf einmal und für kurze Zeit die ganz Grossen sein, während die tatsächlichen Grössen der Politik und der Wirtschaft als Verlierer erscheinen. Eine ver-rückte Machtordnung entsteht.
In den Bräuchen, Bildern und Symbolen der Fasnacht treffen zwar unterschiedliche Kulturelemente und Motive aufeinander, die über das Mittelalter hinaus weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Das «Ver-rückte» der Fasnacht ist aber auch ein zentrales Motiv der biblischen Werteordnung. Das klingt auf den ersten Blick verrückt, denn im biblischen Buch der Sprichwörter wird deutlich vor Narrheit gewarnt. Im 13. Kapitel des Buches lesen wir beispielsweise: «Wer mit Weisen unterwegs ist, wird weise, wer mit Toren verkehrt, dem geht es schlecht» (Sprüche 13,20). Und im Kapitel 24 des gleichen Buches heisst es: «Das Trachten des Toren ist Sünde, der Zuchtlose ist den Menschen ein Gräuel» (Sprüche 24,9).
Die Bibel ist aber nur oberflächlich betrachtet witzlos. Die eigentliche Pointe und der «Witz» der biblischen Botschaft besteht darin, dass sie die Menschen auffordert, das «Selbstverständliche», das «Schicksalhafte» oder das scheinbar «Gottgewollte» der herrschenden Machtstrukturen und Denkweisen zu hinterfragen und auf den Kopf zu stellen – zu verrücken also. Das Aha-Erlebnis, das wir beim Anblick mancher Masken und Spiele während der Fasnacht machen, ist auch ein wesentliches Element im Verstehensprozess biblischer Erzählungen. Alltagsgeschichten werden hergenommen, um darin das Nichtalltägliche aufleuchten zu lassen oder zumindest mitzuteilen, dass es auch anders sein könnte. Die biblischen Vorstellungen eines Kamels im Nadelöhr oder eines Balkens im Auge erscheinen allesamt schon ziemlich verrückt oder als witzige und krasse Karikaturen. Und ausserdem begegnen wir in der Bibel Geschichten, in denen die Wirklichkeit für manchen Beobachter närrisch auf den Kopf gestellt wird. In der Bergpredigt Jesu (Lk 6,20f) beispielsweise gehören ausgerechnet die Armen, Hungrigen und Weinenden zu den Erben des Reich Gottes. Und der christliche Glaube spricht angesichts des Kreuzes von der Auferstehung, angesichts des Todes am Grab vom Leben, angesichts der Ungerechtigkeit der Menschen von der Gerechtigkeit des Gottes Reiches und angesichts des Hasses und der «gerechten» Rache von der Nächsten- und Feindesliebe. Eine ver-rückte Weltordnung begegnet uns hier. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hielt diese christliche Werteordnung einfach für verrückt und wiedernatürlich.
Auf die närrisch-verrückten Tage der Fasnacht folgt im Christentum die 40-tägige Fastenzeit. Sie beginnt am Aschermittwoch und dient zur Vorbereitung auf das Osterfest. Die Fastenzeit ist aber kein abruptes Ende der närrischen Ausgelassenheit der Fasnacht. Sie ist vielmehr eine Denkpause, in der der gläubige Christ und die gläubige Christin wach und sensibel dafür sein sollen, dass die Welt, in der wir leben, nicht im Vordergründigen aufgeht. Auch in der Fastenzeit begegnet uns nämlich eine ver-rückte Welt. Sie eröffnet dem Menschen einerseits den Raum, darüber nachzudenken, wie er es hält mit den scheinbaren Selbstverständlichkeiten seines Alltagslebens, seines Umgangs mit den Mitmenschen, seines Umgangs mit dem, was ihm heilig ist und mit dem, was dem anderen heilig ist. Und sie konfrontiert den Menschen andererseits mit der Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, die Werteordnung mancher verrückten und närrischen Selbstverständlichkeiten einfach mal zu ver-rücken.
5. Februar 2024 | Samuel Behloul ›