Sarah Lohr ist Standortleiterin der Kirchlich Regionalen Sozialdienste in Aarau
«Würde ist ein gegenseitiger Prozess.»
«Vor meiner Anstellung habe ich mir die Frage gestellt, wer auf eine solche Beratungsstelle kommt. Nebst Sozialdienst, SVA, Ehe-, Schulden- oder Suchtberatung. Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Menschen genau auf ein Angebot wie jenes der Kirchlich Regionalen Sozialdienste (KRSD) angewiesen sind. Sie fallen trotz des gut ausgebauten Sozialstaats mit seinem breiten Leistungsangebot schlicht und ergreifend durch die Maschen.» Das sagt Sarah Lohr, Standortleiterin des KRSD der Region Aarau.
Die kirchlich regionalen Sozialdienste fangen jene Menschen auf, die aufgrund schlechter Vorerfahrungen, Ängsten, fehlender Information oder mangelnder Sprachkenntnisse sonst nirgends Anschluss finden. Im letzten Jahr waren es mehr als 700, Tendenz steigend. «Viele Menschen leben in unserer Gesellschaft in prekären Situationen, da sie – unter Umständen politisch gewollt – keine staatlichen Leistungen beantragen können. Beispielsweise Menschen, die lange für sich selbst sorgen konnten und plötzlich in Not geraten. Sie sind es nicht gewohnt, Hilfeleistungen in Anspruch zu nehmen und haben oft Hemmungen, am Wohnort eine Hilfeleistung zu beanspruchen und sich dadurch zu entblössen.» Da sei der KRSD ein niederschwelliger Ort, eine professionell geführte Stelle, die ausserhalb der staatlichen Angebote direkt helfen oder eine Brücke zu öffentlichen Stellen bauen könne.
Sarah Lohr schildert exemplarisch den Fall einer Frau im Asylverfahren. Kürzlich kamen ihre Kinder, die sie bei ihrer Flucht im Heimatland zurücklassen musste, zu ihr auf Besuch. Ihre jüngste Tochter wollte nicht mehr heimkehren. Die Behörde bestätigte zwar, dass die Tochter grundsätzlich bleiben dürfe, jedoch einen eigenen Asylantrag stellen müsse. Eine Zugfahrt zum nächstgelegenen Bundesasylzentrum in Zürich ist für Mutter und Tochter jedoch nicht finanzierbar. Der KRSD unterstützte die Frau einmalig mit 80 Franken. «Das ist eine vermeintlich kleine Sache mit einem grossen Effekt», so Sarah Lohr. «In solchen Momenten sage ich mir: Zum Glück gibt es den KRSD. Die Frau hätte sich mit ihrem Anliegen an keine andere Stelle wenden können.»
Es gebe zwar Möglichkeiten, einmalige staatliche Leistungen zu beantragen, die Bürokratie sei jedoch hoch, und viele Leute wollten dies nicht. «Sie kämpfen wie die Wilden, damit sie nicht in diese administrative Mühle hineingeraten.» Dies betreffe oft Menschen, die knapp über oder unter dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum lebten, kein Anrecht auf staatliche Leistungen hätten, aber bei einer einmaligen Auslage in Not gerieten. Und zunehmend auch Leute, die unter den Auswirkungen der Teuerung litten, die Miete, die Nebenkosten oder eine medizinische Behandlung nicht mehr begleichen könnten.
Die KRSD werden durch Kirchgemeinden und die Landeskirche getragen. Die Mitarbeitenden sind von der Caritas angestellt und arbeiten in deren Räumlichkeiten. Kooperationspartnerinnen im Alltag sind Pfarreien, Seelsorgerinnen, Diakone, Katechetinnen. Die Religionszugehörigkeit der Klienten spielt jedoch keine Rolle, denn die Mitarbeitenden sind in erster Linie sozialarbeiterisch tätig.
Gegenwärtig befindet sich mit einer Onlinebörse ein neues diakonisches Projekt im Aufbau. Sie unterscheidet sich von anderen Onlinemarktplätzen darin, dass die Anbieterinnen und Anbieter von gebrauchten Gegenständen diese kostenlos an die Bedürftigen überbringen und dadurch Transportkosten entfallen. «Viele Leute tun gern etwas Karitatives und können so mit einer kleinen Handlung viel bewirken. Durch das persönliche Überbringen der Gegenstände werden wertvolle Begegnungen ermöglicht, und Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten treffen aufeinander. So wird ein Bewusstsein geschaffen und erfahrbar, wie Armut aussieht.»
Bei ihrer Arbeit in der Unterstützung von benachteiligten Menschen gehe es ihr persönlich nicht nur um Altruismus, betont Sarah Lohr. «Würde ist ein gegenseitiger Prozess. Indem ich anderen eine würdevolle Begegnung ermögliche, ermöglicht mir dies ein sinnstiftendes Berufsleben. Das hat einen hohen Wert.» Sie fände eine Gesellschaft erstrebenswert, in der die Dienste der KRSD überflüssig würden. «Wären die vorhandenen Mittel gerechteren verteilt, könnten alle Menschen in Würde leben.» Und durch eine grössere Niederschwelligkeit gewisser staatlicher Leistungen könnten Zugänge erleichtert werden, damit es den KRSD als Vermittlungsstelle weniger bräuchte und die Leute selbst den Weg zu den Behörden fänden.
Ohne zahlreiche Freiwillige wäre die Arbeit der KRSD nicht zu leisten. Sie unterstützen wöchentlich zu fixen Zeiten Klienten in administrativen Aufgaben wie dem Ausfüllen von Formularen für eine Wohnungsbewerbung oder dem Verfassen von Briefen.
Die KRSD können finanziell oder durch Freiwilligenarbeit unterstützt werden.
13. Mai 2024 | Dani Schranz ›