Nähe und Distanz – Sensibilisierung mit System
Obligatorische Weiterbildung für Mitarbeitende des Pastoralraums Region Aarau

Sieglinde Kliemen ist Präventionsbeauftragte des Bistums Basel und führt eine Praxis für Systemische Beratung und Therapie in Bern.
Die Prävention von Übergriffen hat seit der Veröffentlichung der Vorstudie zu sexuellen Übergriffen in der katholischen Kirche vor eineinhalb Jahren zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Bereits seit den frühen 2000er-Jahren gibt es dazu verbindliche Richtlinien der Schweizerischen Bischofskonferenz. Wer in einer der fünf Pfarreien des Pastoralraums Region Aarau arbeitet, wird von der Kreiskirchgemeinde Aarau angestellt. Diese verlangt von allen neuen Mitarbeitenden neben einem Strafregisterauszug auch einen sogenannten Sonderprivatauszug. Dieser gibt Auskunft über Urteile, die ein Berufs-, Tätigkeits- oder Kontakt- und Rayonverbot enthalten – sofern dieses zum Schutz von Minderjährigen oder besonders schutzbedürftigen Personen erlassen wurde. Mit diesen Massnahmen will die Arbeitgeberin bereits zu Beginn einer Anstellung das Risiko eines Übergriffs möglichst ausschliessen bzw. auf ein Minimum reduzieren.
Alle Mitarbeitenden sowie die Mitglieder der Behörden sind verpflichtet, alle drei Jahre einen aktualisierten Sonderprivatauszug einzureichen und einen Kurs zu Nähe und Distanz zu absolvieren. In diesem Jahr finden diese Kurse unter der Leitung von Sieglinde Kliemen statt. Sie ist seit 2022 Präventionsbeauftragte des Bistums Basel und führt eine eigene Praxis für systemische Beratung und Organisationsentwicklung in Bern. In dem vierstündigen Seminar lernen die Teilnehmenden den professionellen Umgang mit Menschen, die sie im kirchlichen Umfeld begleiten. Ziel der Weiterbildung ist nebst der Prävention auch die Stärkung der persönlichen und beruflichen Kompetenz im kirchlichen Arbeitsfeld.
Zu Beginn thematisiert Sieglinde Kliemen das Spannungsdreieck der Prävention: Vernachlässigung – «Bei uns passiert schon nichts», Überforderung – «Eigentlich ist das nicht so schlimm», und Hypersensibilität – «Hinter jedem Busch lauert ein Täter». Ziel sei eine Haltung, so die Referentin, die grenzwahrend gelebt werde und eine gesunde Sensibilität im Umgang mit anderen ermögliche.
Ein weiteres Spannungsfeld betrifft das «Dilemma in Beziehungen». Hier prallen zwei Grundbedürfnisse aufeinander: Autonomie und Integrität auf der einen, Verbundenheit und Integration auf der anderen Seite. «Wenn wir mit unserem Denken, Fühlen und Handeln im Einklang sind, wahren wir unsere Integrität. Werden wir hingegen beeinflusst, handeln wir womöglich gegen unser Gefühl, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht zu verlieren.»
Praktische Übungen sind ein zentraler Bestandteil der Weiterbildung. In Kleingruppen reflektieren die Teilnehmenden ihr Verhalten in konkreten, praxisnahen Situationen: Wie gehe ich mit dem Mangel um, wenn mein Bedürfnis nach Nähe nicht gestillt wird? Oder: Wie grenze ich mich gegenüber jemandem ab, der mir zu nahekommt? So gelingt eine Annäherung an das Kursthema aus Täter- und Opferperspektive.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Bewusstsein für die Asymmetrie von Beziehungen im kirchlichen Berufsalltag. «Wenn jemand bei einer Seelsorgerin Hilfe sucht, trägt sie die Verantwortung für die Grenzwahrung. Er denkt, da ist jemand, der ihm helfen kann – und schenkt ihr Vertrauen. In dieser Situation muss sich die Seelsorgerin als ‹Starke› bewusst sein, dass der ‹Schwache› womöglich nicht Nein sagen kann, wenn sie ihm zu nahekommt. Er ist befangen.»
Sieglinde Kliemen sensibilisiert auch dafür, dass kirchlich Mitarbeitende immer in einer Vorbildfunktion stehen – und unter Beobachtung: im ÖV, im Schwimmbad. «Der Herr Pfarrer geht einkaufen, nicht der Egon.» Welche Auswirkungen dieses Bewusstsein auf den Alltag haben kann, zeigen konkrete Beispiele: Schon ein politisches Statement im Instagram-Profilbild oder eine private Statusmeldung auf WhatsApp werden wahrgenommen – und können Druck auf andere Mitarbeitende oder Gruppenmitglieder ausüben.
Beeinflussung, Unterlassung, Macht, Abhängigkeiten: Das Beziehungsfeld kirchlicher Arbeit ist vielschichtig. Und es geht immer um Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen. Diesen zu entsprechen, ist anspruchsvoll – umso wichtiger sind regelmässige Schulungen und Sensibilisierung. Das nächste Mal spätestens wieder in drei Jahren.
23. April 2025 | Dani Schranz