Andreas Dvorak begleitet die Kreiskirchenpflege Aarau im Strategieprozess

«Das ‹Hauptgeschäft› ist das kirchliche Angebot.»

Rückläufige Mitgliederzahlen und geringere finanzielle Mittel bedingen eine strategische Neuausrichtung der Kreiskirchgemeinde Aarau. Für diesen Prozess hat sich die Kreiskirchenpflege mit Andreas Dvorak, Mitinhaber des Beratungs­unter­nehmens socialdesign in Bern, professionelle Unterstützung geholt. Wir haben uns mit ihm nach einer Retraite unterhalten.

Herr Dvorak, vor zwei Jahren wurde die Kreiskirchenpflege Aarau um mehr als die Hälfte verkleinert. Den Stimmberechtigten wurde gesagt, eine schlanke Behörde könne effizient und agil handeln. Nun ist sie auf Ihre Unterstützung in der Entwicklung ihrer Strategie angewiesen. War die Reduktion von 16 auf 7 Mitglieder ein Fehler?

Nein. Man hat oft das Gefühl, durch eine Verkleinerung werde alles kurzfristig einfacher. Aber das ist oft nicht so schnell möglich, insbesondere dann nicht, wenn es eine so grosse Themenvielfalt gibt wie bei der Kirche.

Welche Aufgaben umfasst Ihr Mandat?

Ich bin dafür mandatiert, die Strategie anzugehen und herauszufinden, in welche Richtung sich die Kreiskirche weiterentwickeln soll.

Haben Sie bereits eine Vorstellung davon?

Als öffentlich-rechtliche Institution seid ihr angehalten, euer Geschäft richtig zu führen und mögliche Risiken zu beachten. Als Nonprofitorganisation und Arbeitgeberin seid ihr ähnlich unterwegs wie ein KMU und steht unter öffentlicher Beobachtung. Hier eine Vision zu entwickeln, ist nicht trivial, denn einerseits müsst ihr euer Angebot auf die Menschen ausrichten, die in der Kirche ganz unterschiedliche Themen suchen, andererseits müssen diese vielfältigen Dienstleistungen alle erbracht und verwaltet werden.

Aus pastoraler Sicht kann die Liturgie oder das diakonische Wirken von strategischer Bedeutung sein, aus Behördensicht der Erhalt der kirchlichen Gebäude oder ein ausgeglichenes Budget. Wie kann da ein Konsens gefunden werden?

Mit einer Strategie geht es nicht darum, nur in eine Richtung zu steuern. Es stellt sich vielmehr die Frage: Wie geht man gemeinsam auf die vereinbarte Vision zu? Wie wollen wir das steuern? Wo legen wir zu welchem Zeitpunkt das Fortschreiten fest? Wir sind verpflichtet, mit Menschen in Kommunikation zu sein und ihre Bedürfnisse abzuklären. Die Dienstleistungen, die in den verschiedenen Pfarreien erbracht werden, unterscheiden sich, weil sie in unterschiedlichen Strukturen von unterschiedlichen Menschen entwickelt wurden und unterschiedlich gewachsen sind. Diese Pluralität muss sich unter einen Hut bringen lassen. Und man muss sich die Frage stellen, wie diese Pluralität künftig abgesichert und finanziert werden kann. Da sind unterschiedliche Kräfte am Werk. Es benötigt den Aushandlungsprozess.

Es sollte also ein Gleichgewicht der Interessen entstehen.

Ich weiss nicht, ob das gelingt. Auf der einen Seite haben wir alles Pastorale, Liturgische, auf der anderen Seite brauchen wir eine Serviceleistung, da wir sonst die pastoralen Dienstleistungen nicht erbringen können. Das «Hauptgeschäft» ist das kirchliche Angebot. Die Situation ist vergleichbar mit einem Hilfswerk. Nicht das Geld ist das Hauptthema, sondern der Wunsch, Bedürftigen zu helfen. Wenn der Finanzverwalter anfängt, mein Geschäft zu beeinflussen, entsteht ein Konflikt.

Die fünf Pfarreien im Pastoralraum sind selbständig, das Budget wird aber übergeordnet von der Kreiskirchenpflege erarbeitet. Ein anspruchsvolles Gefüge.

Ja, das macht die Sache nicht einfach, aber spannend. Die Situation lässt sich mit politischen Gemeinden und Kantonen vergleichen. Die unterscheiden sich auch. Jede Gemeinde hat ähnliche Aufgaben, welche sie jedoch wegen ihrer Struktur anders lösen muss, aber im Grossen und Ganzen ist man trotzdem gewillt, einen Zusammenhalt, eine Kohäsion im Land zu erhalten. In dieser Weise muss man in die Zukunft gehen. Wir können nicht einfach militärisch verordnen: Ihr seid nun alle gleich und richtet euch alle gleich aus. Das würde nicht funktionieren. Das Sinnvolle an einer gemeinsamen Strategie wäre, dass ein so hohes Vertrauen zueinander besteht, dass man zwar zuerst bei sich selbst ist, aber davon ausgeht, dass die anderen mitdenken und sich auf dieselbe Vision ausrichten, damit man gemeinsam Lösungen findet. Strategie tönt ein wenig militärisch, deshalb gefallen mir die neuen Begriffe wie Vision oder Mission oder ein purpose, also eine Zweckbestimmung, besser. Es geht darum, gemeinsam einen Zweck zu erkennen und dafür zu brennen. Und auch zuzulassen, dass jemand mal etwas Neues ausprobieren will. Das sollte Platz haben. Wenn das einander nicht zugestanden wird, gibt es keine Weiterentwicklung. Hat jemand eine Idee, kann man versuchen, sie zu verhindern, man kann aber auch sagen, das ist spannend, da probiert jemand etwas aus. Es gibt dazu ein schönes Bild: Stellen Sie sich zwei Menschen auf Schlittschuhen vor. Ich kann mit meinem Arm den anderen nach vorne schleudern, und der gewinnt so an Tempo, dass er mich wiederum auf der anderen Seite mitzieht. So kann man gemeinsam übers Eis rasen und sich gegenseitig Kraft geben. Das ist für mich eine Wirkung von Strategie.

«Die Leute müssen sich gehört fühlen, und man muss Schritt für Schritt aufeinander zugehen und gegenseitiges Vertrauen finden. Das ist einer der wichtigsten Prozesse.» Andreas Dvorak mit Mitgliedern der Steuergruppe der Kreiskirchenpflege Aarau an ihrer Strategie-Retraite

Das setzt voraus, dass entsprechende Mittel vorhanden sind, die gerecht verteilt werden. Die einen möchten möglichst viel Autonomie in den Pfarreien, die anderen wollen Synergien nutzen, sei es beim Personal oder bei der Infrastruktur. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Bedürfnisse unter einen Hut bringen?

Auf den ersten Blick passt das überhaupt nicht zusammen. Es muss ein gegenseitiges Vertrauen vorhanden sein. Ich muss dem anderen zuzugestehen können, dass das, was er macht, im Sinn dessen ist, was ich selbst auch anstrebe. So kann ich sagen: Ok, vielleicht muss ich vorübergehend mit einem etwas kleineren Budget auskommen, weil eine andere Pfarrei während einer gewissen Zeit ein paar Franken mehr benötigt. Ich muss mich aber darauf verlassen können, dass es in ein, zwei Jahren wieder zu einem Ausgleich kommt. In der Strategie oder der Vision, die wir am Erarbeiten sind, geht es genau um das.

Wie gehen Sie methodisch vor?

Ich versuche, den Prozess pluralistisch anzugehen. Wenn ich etwas gelernt habe in meinem Leben, dann dies: Wenn ich versuche, etwas durchzudrücken in Zeiten, in denen die Leute selbst mitdenken und partizipieren, dann scheitere ich. Die Leute müssen sich gehört fühlen, und man muss Schritt für Schritt aufeinander zugehen und gegenseitiges Vertrauen finden. Das ist einer der wichtigsten Prozesse. So entsteht ein Ausgleich, ein Teilen von Argumenten. Wenn ich mich in diesem Prozess sicher fühle, kann ich Lösungen entwickeln. Dann kann es gelingen, «eine Kirche für alle» zu werden. Es stellen sich nun zwei Fragen: Welche Leistungen will ich erbringen, um eine Kirche für alle zu sein? Und wie viele Mittel kann ich dafür aufwenden? Ich arbeite dabei mit einem so genannten Game-Plan, das ist eine Alternative zu einer Stärken-Schwächen-Analyse. Sie bildet den Prozess ab, wie man ans Ziel kommt. Es gibt Dinge, die uns aufhalten und stören, aber es besteht auch viel Potenzial, das Rückenwind gibt. So kommen man Schritt um Schritt zum Ziel. Das klingt ein wenig nach Wischiwaschi. Aber wenn wir schauen, welche Strategien heute erfolgreich sind, sind es immer öfter solche, die auf agilen Methoden basieren.

Es geht also darum, die vorhandenen Stärken und Talente zu bündeln und zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.

Darin sehe ich grosses Potenzial. Aus dem Wilden, das ich nicht fassen kann, kann ich lernen. Es ist eine Stärke, voneinander lernen zu können. Ganz wichtig ist, dass wir das, was wir tun, gerne tun. In diesem Zusammenhang gefällt mir der Ausdruck, «verliebt in das Gelingen» zu sein.

Wie sollte die Kreiskirchenpflege aufgestellt sind, damit Sie Ihr Mandat mit gutem Gefühl beenden können?

Sie sollte so unterwegs sein, dass sie ihre Strategie jährlich mit Freude überprüft und dort Anpassungen vornimmt, wo diese nötig sind. Eine Strategie, aber auch eine Vision, ist nichts Statisches, und wir werden in einem Jahr an einem anderen Ort stehen als heute. Wir brauchen Vertrauen in das gemeinsame Unterwegssein. Das ist das Wichtigste. Zudem müssen wir uns auf einen Konnex einigen, damit wir wissen, wie wir gemeinsam weitergehen wollen. So festigen wir unsere Vision. Die Strategie ist das Gefährt, mit dem ich mich aufmache, meine Vision zu erreichen. Wenn wir die Richtung kennen, können wir vereinbaren, wer was dazu beiträgt, um an diesen Ort zu gelangen. Nicht jeder muss dasselbe dazu beitragen. Eine Schildkröte bewegt sich anders als ein Vogel. Aber beide gehen den Weg ans Wasser, weil sie dieses brauchen. Wir sind unterschiedlich, aber wir können eine gemeinsame Ausrichtung entwickeln – im Verliebtsein in das Gelingen und mit Freude, das Ziel zu erreichen.


10. Juni 2024 | Das Interview führte Dani Schranz ›