«Die Verkündigung der Frohen Botschaft ist systemrelevant.»

Brigitta Minich, Pastoralraum-Leiterin, und Markus Greiner, Präsident der Kreiskirchenpflege

Das duale System der Katholischen Kirche in der Schweiz baut auf das Zusammenspiel der staatskirchenrechtlichen und der pastoralen Seite. Wie dieses Miteinander gelingt, zeigt sich in der Kirchenpflege – dem Ort, wo gemeinsam Lösungen gesucht und Entscheidungen getroffen werden. Markus Greiner, Präsident der Kreiskirchenpflege (KKP), und Brigitta Minich, Pastoralraum-Leiterin, haben sich zum Gespräch getroffen.

Einstiegsfrage: Was schätzt der Präsident der Kreiskirchenpflege an der Pastoralraum-Leiterin besonders?
Markus Greiner Ihre Offenheit. Ich spüre ihre tiefe Religiosität und ihre Liebe zu den Menschen.

Und was erwartet die Pastoralraum-Leiterin vom Präsidenten der Kreiskirchenpflege?
Brigitta Minich Dass wir unsere Kirche im Jetzt inmitten der Gesellschaft proaktiv gestalten – du als KKP-Präsident, ich als Pastoralraum-Leiterin, zusammen mit meinen Pfarreileitungskollegen. Du hast einmal schön gesagt, dass du möchtest, dass wir die tollste Arbeitgeberin im Kanton werden. Das habe ich gehört, und da wir uns als Ausbildungspastoralraum verstehen, bin ich guten Mutes und höre so etwas mit grosser Pionier- und Aufbruchfreude.

Heisst das, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden?
Markus Greiner Die beste Arbeitgeberin zu sein, bedeutet nicht, am meisten Personal zu beschäftigen. Vielmehr sollen die Stellen, die wir anbieten, sinnstiftend sein, Freude bereiten und jene befriedigen, die die Arbeit leisten. Es ist mir wichtig, dass unsere Mitarbeitenden abends mit einem guten Gefühl nach Hause gehen im Wissen, etwas beigetragen zu haben.

Wie ist der Ausdruck «die Gesellschaft proaktiv gestalten» gemeint?
Brigitta Minich Mir ist das Wirken von innen wichtig. Die Auftritte der Katholischen Kirche gegen aussen finde ich momentan nicht sehr zielführend, weil ich glaube, dass wir uns gegen innen reformieren sollten. Wir müssen uns wieder orientieren an dem, was unsere Quelle und was unser Kernauftrag ist, die Verkündigung der Frohen Botschaft. Diese Botschaft ist äusserst systemrelevant und muss dringend in diese Gesellschaft und in unsere Zeit hineinverkündet werden – in einer Sprache, die die Menschen heute verstehen. Der Pastoralraum hat sich das Motto «nah bei den Menschen» gegeben. Das sollten wir uns immer bewusst sein, und dafür wollen wir in guter, konstruktiver Zusammenarbeit Verantwortung übernehmen. Ich schätze das duale System und stehe für den demokratischen Teil unserer Hierarchie ein. Hier braucht es aktive und innovative Menschen. Die religiöse Grundausrichtung oder Herkunft ist ja auf beiden Seiten vorhanden – egal, ob jemand staatskirchenrechtlich oder pastoral tätig ist. Wir haben einen Glauben, der uns trägt.

Um dieses Ziel zu erreichen, stehen jährlich rund 9 Millionen Franken zur Verfügung.
Markus Greiner Von diesen 9 Millionen bleiben 90 bis 95 Prozent bei uns. Das Geld fliesst in unsere Gemeinden für die pastorale Arbeit. Damit bezahlen wir die Saläre unserer Mitarbeitenden, pflegen unsere Liegenschaften, damit sie zu schönen Behausungen werden, und wir haben die Möglichkeit, über die Zukunft nachzudenken. Als Solidaritätsgemeinschaft können wir uns überlegen, was in fünf, zehn oder zwanzig Jahren wichtig sein wird. Diesen Luxus, so langfristig zu denken, wollen wir schöpferisch nutzen.

Was unterscheidet denn eine Solidaritätsgemeinschaft von einer Dienstleistungsgesellschaft?
Markus Greiner Man kauft sich bei uns durch die Kirchensteuer keine Beerdigung, man kann sich bei uns beerdigen lassen, wenn man das möchte. Man kauft sich keine Kommunion, sondern leistet mit der Kirchensteuer einen Beitrag, solidarisch denen gegenüber zu sein, die bei uns mitmachen wollen.

Eine schöne Aufgabe, eine Solidaritätsgemeinschaft zu präsidieren.
Markus Greiner Ich möchte meine Talente nicht nur im beruflichen Umfeld einsetzen, sondern auch einen Beitrag leisten, damit sich die Kirche weiterentwickelt und neue Wege ausprobiert. Das lässt Scheitern zu, und das lässt Erfolg zu.

Eine solche Weiterentwicklung setzt Einigkeit und eine gemeinsame Stossrichtung innerhalb des dual zusammengesetzten Gremiums voraus. Wie zeigt sich diese konkret?
Brigitta Minich Beispielsweise im Zusammenhang mit unseren Begegnungsräumen. Sie sollen in einem guten Zustand sein. Sie werden von unterschiedlichsten Gruppen genutzt. Oder in einem gemeinsamen Auftritt gegen aussen, indem wir als Römisch-Katholische Kirche im Aargau etwas zum sozialen Frieden und zum multikulturellen Zusammenleben beitragen können. Dass wir die geballte «Man- und Womenpower» im Pastoralraum und in der Kreiskirchgemeinde zusammenlegen können. Mein Bild ist immer der Weinberg: Da braucht es unterschiedliche Arbeiterinnen und Arbeiter, damit im Herbst die Trauben geerntet werden können und der Wein bereitet werden kann, den wir als Katholikinnen und Katholiken schlussendlich auf den Altar stellen und um Verwandlung bitten. Das ist meine Vision der Zusammenarbeit: dass wir zusammen an unterschiedlichen Orten auf dieses gemeinsame Ziel hinarbeiten, damit der Weinberg fruchtbringend bewirtschaftet werden kann. Dabei sind so viele unterschiedliche Arbeiten zu verrichten, die nur mit einem sinnvollen Miteinander gelingen können.

Markus Greiner Wir haben in den Behörden mit Theologinnen und Theologen, Polizisten, Juristen, Rechtsanwälten oder Architekten eine spannende Konstellation, ganz viele Talente und Berufsgruppen, die sich per Definition eigentlich nicht einigen können. Aber das ist eben das Spannende: Alle bringen sich mit ihrer Lebenserfahrung ein, und das führt zu nachhaltigen Ergebnissen.

Das war der Blick nach innen. Richten wir ihn nun nach aussen. Sollte die Kirche mit ihrem Wirken zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen?
Markus Greiner Die Kirche kann positiven Einfluss auf die Entwicklung der Welt zu einem friedlicheren Ort nehmen. Wir haben heute beispielsweise mit dem Klimawandel globale Probleme, die von globalen Organisationen wie der Kirche behandelt werden müssen.

Die Kirche darf sich also in den politischen Prozess einmischen.
Markus Greiner Die Kirche mischt sich über jeden Menschen persönlich in die Politik ein. Als Organisation ist die Kirche Teil der res publica, der öffentlichen Sache.

Vor zwei Jahren sah man vor einigen Kirchen Plakate, die für ein Ja zur Konzernverantwortungsinitiative warben. War das richtig?
Markus Greiner Es ist nicht an mir, ein Plakat aufzuhängen oder nicht. In erster Linie ist es spannend, wie der Diskussionsprozess läuft. Vielleicht hätte die Diskussion damals noch breiter in den Kirchgemeinden geführt werden sollen.

Brigitta Minich Die Kirche soll sich einbringen in die Meinungsbildung. Wir sollen Räume öffnen, damit sich Menschen eine Meinung bilden können. Da können wir dank unseres christlichen Hintergrunds etwas beitragen. Dies haben wir beispielsweise vor einem Jahr im Rahmen einer öffentlichen Podiumsdiskussion zur Änderung des Transplantationsgesetzes gemacht. Das ist genau die Art, wie ich mir unsere Rolle vorstelle. Zurückhaltender bin ich, wenn es um ein direktes Einmischen in die Politik geht, weil unsere Mitglieder ganz unterschiedliche persönliche Haltungen haben. Unser Spielraum ist dabei gegeben, weil wir wegen der zehn Gebote und den Seligpreisungen eine Grundhaltung haben, die wir nicht verraten dürfen.

Unterschiedliche Lebenswelten zeigen sich auch innerhalb der fünf Pfarreien und Ortskirchen. Worin besteht der gemeinsame Nenner?
Markus Greiner Es gibt ein pastorales Leitbild mit lokal verankerten Ortskirchen. In städtischen und ländlichen Gebieten haben Menschen eine unterschiedliche Einstellung zu dem, was ihnen wichtig ist und was sie von der Kirche erwarten. Diese Vielfalt ist eine Bereicherung. Deshalb müssen wir gut schauen, wie viel Gemeinsames sinnvoll ist, und wo jede Ortskirche für sich selbst die beste Lösung findet.

Brigitta Minich Ich stehe hinter diesem Pastoralraummodell mit eigenständigen Pfarreien und Pfarreileitungen, die ihr eigenes pastorales Handeln verantworten, weil wir eine so grosse Region sind. Bei uns vereinen sich ländliche Gebiete, Agglomerationsgemeinden und die Kantonshauptstadt. Da gibt es unterschiedliche Wahrnehmungen, Ansprüche und Bedürfnisse. Wir haben das Glück, dass gegenwärtig alle Pfarreileitungen besetzt sind. Hinsichtlich der Entwicklung des Pastoralraums mache ich mir diesbezüglich jedoch Gedanken, denn personelle Wechsel wie Pensionierungen können die pastorale Entwicklung schnell verändern.

Als beste Arbeitgeberin müsste die Kreiskirchgemeinde keine Angst um Nachwuchskräfte haben.
Markus Greiner Wir können innerhalb der Kreiskirchenpflege eine Arbeitskultur und ein Klima entwickeln, welches zu nachhaltigen Entscheidungen führt. Das liegt auch in meiner Verantwortung. Sollten wir für Pfarreileitende keine Nachfolge finden, ist ein Modell gefragt, das wir gemeinsam entwickeln und umsetzen. Vielleicht gibt es in einigen Jahren Lösungen, damit personelle Wechsel nicht als Verlust wahrgenommen werden. Es geht dabei um die Frage, wie mit dem vorhandenen Personal die Aufgaben in der Zukunft erfüllt werden können.

In Zukunft wird der Pastoralraum vermutlich noch vielfältiger und multinationaler geprägt sein. Bereits heute haben 50 Prozent der Mitglieder einen Migrationshintergrund.
Brigitta Minich Durch die Migration haben wir trotz Kirchenaustritten praktisch gleichbleibende Mitgliederzahlen. Die Herausforderung besteht im Spannungsfeld zwischen diesen Menschen mit ihrer eigenen Frömmigkeit und den Schweizerinnen und Schweizern, die sich immer mehr von der Kirche distanzieren. Wir müssen in den Pfarreien eine Pastoral der Vielfalt entwickeln, welche Menschen integriert und sie hier beheimatet, egal, von wo sie kommen. Unterschiedlichen Bedürfnisse gilt es anzunehmen und zu berücksichtigen. Die Situation hat sich in den letzten 15 Jahren komplett verändert. Das betrifft auch das Personal. Mitarbeitende, die vor 20 oder 30 Jahren ihre Ausbildung gemacht haben, arbeiten heute ganz anders, als sie es gelernt haben. Das braucht viel Agilität in den Teams.

Spiegelt sich diese Entwicklung hin zu Multinationalität auch in den Behörden wider?
Markus Greiner Das ist ein langfristiges Ziel. Die Vertretungen von Migrantinnen und Migranten in den Kirchenpflegen kann weiterentwickelt werden. Schon jetzt haben wir Personen mit Migrationshintergrund in den Behörden, und viele Menschen engagieren sich in den Missionen.

Euer Schlusswort an die Leserinnen und Leser?
Brigitta Minich Die Kirche hat einmal das Hirtenbild entwickelt: Der Hirt ist die Person, die der Herde vorangeht. Vor ein paar Jahren bin ich darauf gestossen, dass es in Israel, von wo das Bild ursprünglich stammt, genau umgekehrt ist. Dort läuft die Schafherde voraus, denn die Schafe wissen am besten, wo sie Futter finden, und der Hirt oder die Hirtin hat die Aufgabe, die Herde zusammenzuhalten und sie zu beschützen. Ich liebe dieses zweite Bild sehr. Und so wünsche ich mir von Leserinnen und Lesern, dass sie mit ihren eigenen Ideen auf mich zukommen und sie mir mitteilen. Auch in Bereichen, die uns vielleicht noch nicht präsent sind.

Markus Greiner Nelson Mandela nennt dies leading from behind. Die Kirche funktioniert nur mit all den Freiwilligen. Und ich bin dankbar für alle, die sich engagieren, ihre freie Zeit, ihren Spass und ihre Energie einbringen.