Die Komplet, das Abendgebet, feiern die Benediktinermönche in der Marienkirche des Klosters Disentis.

Einladung zum Abendgebet

Das Benediktinerkloster Disentis überträgt jeden Tag um 20 Uhr das Abendgebet der Mönche auf Youtube. Alle, die sich dafür interessieren, können am PC oder auf dem Handy dabei sein, wenn sich die klösterliche Gemeinschaft vor der Nachtruhe zum letzten Mal trifft.

Schon dreimal verbrachte ich eine Auszeit im Kloster Disentis. Im November werde ich eine weitere Woche bei den Benediktinern sein. Als Gast zwar, aber doch – so nehme ich es wahr – nicht als Fremder, sondern als jemand, dem man ein schönes Zimmer herrichtet und einen Platz im Refektorium zuweist, der an der Tischgemeinschaft teilhaben darf und dem eine Serviette mit seinem Namen neben das Gedeck gelegt wird. Das ist klösterliche Gastfreundschaft.

Schauen Sie sich einmal das Abendgebet, die Komplet, auf Youtube an. Lassen Sie sich ein auf die vielleicht zu Beginn etwas fremd anmutenden Gesänge. Lauschen Sie einfach den jahrhundertealten Melodien und folgen Sie den Texten, die gelesen werden. Es kann sein, dass Sie in eine grosse Ruhe, in eine tiefe Entspannung eintauchen. Ohne etwas dafür zu tun.

Die Orgel zieht bei der Komplet nicht alle Register, sie begleitet nur sanft den Männergesang. Die Psalmen klingen so, wie sie seit jeher in benediktinischen Gemeinschaften erklingen. Urspünglich, ehrlich, ohne Effekthascherei. Der Gesang während der Stundengebete ist ein ganz selbstverständlicher Teil im klösterlichen Tagesablauf.

Das Leben der Mönche mag uns vielleicht ungewohnt vorkommen – ein Leben wie aus der Zeit gefallen. Aber gerade heute sind wir aufgerufen, toleranter denn je zu sein: gegenüber Menschen, die eine unkonventionelle Lebensform wählen, gegenüber Menschen, die politisch anders denken, gegenüber Menschen, die sich mit einer fremden Sozialisierung bei uns niederlassen. Oder gegenüber Menschen, die ihre Spiritualität ins Zentrum des Lebens stellen. Sie alle beanspruchen für sich, als Teil der Gesellschaft gleichberechtigt anerkannt zu werden. So können wir uns vorstellen, dass es auch im 21. Jahrhundert Menschen gibt, die sich für ein klösterliches Leben entscheiden. Menschen, die um 5 Uhr morgens aufstehen, um sich um 5.30 Uhr zum Stundengebet von Virgil und Laudes zu treffen. Die anschliessend, jeder für sich und schweigend, frühstücken. Und sich um halb acht in der Kirche zur Heiligen Messe versammeln.

Der Alltag der Benediktiner orientiert sich am Rhythmus der Gebetszeiten. Ora et labora. Dieser Wechsel von Aktivität und Ruhe schafft eine besondere Form von Zentrierung und Ausgeglichenheit. Als Gast taucht man in diese Ordnung ein, passt sich dem klösterlichen Alltag an und erfährt so eine Entschleunigung, die im Alltag oft zu kurz kommt. In der Stille des Klosters wird der Geist frei, Gedanken kommen zur Ruhe, und ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit sich selbst und der Umgebung entsteht.

Während meiner Aufenthalte im Kloster habe ich den Wert dieses geordneten Tagesablaufs schätzen gelernt – die Konzentration auf das Wesentliche, die bewusste Reduktion auf das, was wirklich wichtig ist. Ich habe erfahren, wie wertvoll es sein kann, sich auf das Sein im Hier und Jetzt zu konzentrieren und sich nicht von äusseren Einflüssen ablenken zu lassen.

In der Komplet bildet die sogenannte Marianische Antiphon den Abschluss der Feier und des Tages. Es ist laut der Website des Klosters «ein Gruss an die Gottesmutter Maria, in dem sich die Mönche in Gottes liebende Arme bergen, um darin Ruhe und Schutz zu finden». Nach dem Abendgebet gilt im Kloster bis zum nächsten Morgen das nächtliche Stillschweigen – die Zeit der inneren Sammlung und Reflexion.

Die Übertragungen auf Youtube sind eine Möglichkeit, einen Moment lang am klösterlichen Leben teilzuhaben. Es ist eine Einladung, innezuhalten und in Distanz zum Alltag zu gehen, egal, wo man sich befindet. Denn auch wenn wir uns nicht gleich für ein Leben im Kloster entscheiden, so können wir es uns zur Gewohnheit machen, uns eine halbe Stunde lang von der benediktinischen Lebensart berühren zu lassen.

Link zum Kanal des Benediktinerklosters Disentis


5. August 2024 | Dani Schranz