Von der Volkskirche zur Kirche der Völker
Gedanken zum Jahreswechsel von Dr. Samuel Behloul, Leiter des Pastoralraums Region Aarau
Dr. Samuel Behloul: «Es braucht Bewusstseinsstürmer.»
In weniger als zwei Wochen werden wir dem noch laufenden Jahr definitiv Adieu sagen. Aus kirchlicher Perspektive geht ein Jahr zu Ende, das erneut von defizitorientierten Narrativen und Diskussionen geprägt wurde.
Sowohl in den kirchlichen wie auch den nichtkirchlichen Medien wurde mit fleissiger Regelmässigkeit über die immer neuen Rekordzahlen bei den Kirchenaustritten berichtet, die Auflösung kirchlicher Milieus beklagt und das Narrativ vom Verschwinden der Volkskirche immer wieder aufs Neue bemüht.
Worüber wir aber wenig bis kaum etwas hören oder lesen konnten – auch in den kirchlichen Medien nicht –, ist die Antwort auf die Frage, ob und was Neues aus all diesen dynamischen Prozesses hervorgeht. All die innerkirchlichen Klagelieder übertönen nämlich die wichtige Tatsache, dass wirklich etwas Neues entsteht bzw. inzwischen bereits da ist: Aus der traditionellen und milieugeprägten Volkskirche ist eine Kirche der Völker hervorgegangen. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes «katholisch» geworden.
Unter «katholisch» verstehe ich das, was «katholisch» ursprünglich bedeutete: die Universalität und die kulturelle Vielfalt der Kirche. Diese Vielfalt markierte auch die Anfänge der Kirche, und sie gehörte einst zum Wesensmerkmal der Ur-Kirche. Und 2000 Jahre danach sind wir nun, migrationsbedingt, von dieser Ur-Katholizität der Kirche auch in der Schweiz eingeholt worden. Die Katholische Kirche in der Schweiz war in kultureller Hinsicht noch nie so lebendig und vielfältig, wie sie es heute ist. Wir haben heute nicht nur grosse Ähnlichkeiten mit der Ur-Kirche, sondern können von ihr auch lernen, wie mit dieser nicht selten herausfordernden Vielfalt umzugehen ist. Auch in der Ur-Kirche musste man dieses «Katholisch-Sein» erlernen. Wie gelang dieser Lernprozess damals?
Drei Voraussetzung waren dafür nötig: erstens ein spezifisches sozial-diakonisches Engagement, welches sich nicht bloss als ein humanitärer Akt unter vielen verstand, sondern im Vermächtnis Jesu von der Einheit des Gottes- und Menschendienstes begründet war; zweitens eine Dialog-Kultur, die die Menschen in der Vielfalt ihrer nicht nur materiellen, sondern auch spirituellen, liturgischen, rituellen und kulturbedingten Bedürfnissen ernst nahm; und drittens eine Verkündigung, die sich als Gegenerzählung zur allgemeinen Resignation, als Hoffnung gegen alle Hoffnungslosigkeit verstand.
Diese drei Dimensionen, die Einheit von Gottes- und Menschen-Dienst, der Dialog und die Verkündigung, haben der Ur-Kirche unter den damals äusserst widrigen sozio-politischen Bedingungen nicht nur das Überleben gesichert. Davon hing auch ihre Glaubwürdigkeit ab. Und davon hängt auch die Glaubwürdigkeit und die Zukunft unserer Kirche heute ab. Um das Bewusstsein dafür zu schärfen, brauchen wir in unserer Kirche der Völker heute weder Untergangspropheten noch Strukturstürmer. Es braucht vielmehr Bewusstseinsstürmer. Denn im Dickicht von defizitorientierten Narrativen und Diskussionen auf der einen und vorauseilenden Anpassungs- und Umstrukturierungszwängen auf der anderen Seite geht zunehmend vergessen, wer wir als Kirche sind, was unser Auftrag ist, worin sich dieser Auftrag von anderen Dienstleistungsanbietern unterscheidet und was ihn einzigartig macht.
Das müssen wir uns gerade in Zeiten der definitiv schwindenden Selbstverständlichkeiten traditioneller Volkskirchlichkeit verstärkt ins Bewusstsein rufen. Und das wünsche ich uns allen im neuen und in den kommenden Jahren.
16. Dezember 2024 | Dr. Samuel Behloul