Dr. Andreas Krafft ist seit mehr als 20 Jahren Dozent an der Universität St. Gallen (HSG) sowie Management-Trainer und -Berater mit Schwerpunkt in der Arbeits-, Organisations- und Gesundheitspsychologie. Als Associate Researcher am Institut für Systemisches Management und Public Governance (HSG), Co-Präsident von swissfuture (der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung) sowie Vorstand der Swiss Positive Psychology Association leitet er das internationale Forschungsnetzwerk des Hoffnungsbarometers. Bild: GEWA
«Wir sind in der Lage, das Negative zu überwinden.»
Dr. Andreas Krafft ist Verfasser des «Hoffnungsbarometer 2024» der Universität St. Gallen. Im Gespräch mit Dani Schranz erklärt er, was es braucht, um zuversichtlich in die Zukunft zu schauen. Und welche Rolle er der Kirche beimisst.
Herr Krafft, in der Einleitung zum aktuellen Hoffnungsbarometer schreiben Sie, dass der mangelnde Glaube an eine bessere gesellschaftliche Zukunft insbesondere bei jungen Menschen zunehmend Hilflosigkeit, Perspektivenlosigkeit und Gleichgültigkeit auslöse. Besonders sichtbar wird dies in der Beurteilung der Lebensqualität in 20 Jahren. In den letzten 4 Jahren sind die langfristigen Erwartungen markant negativer geworden. Mehr als zwei Drittel der Befragten erwarten eine Verschlechterung der Lebensqualität. Worauf ist diese Zunahme zurückzuführen?
Dr. Andreas Krafft: Die aktuellen Ereignisse und Phänomene, die weltweit stattfinden, konfrontieren die Menschen von neuem mit negativen Situationen und zeigen, dass sich die Welt anscheinend aufgrund von Katastrophen und Kriegen in einer negativen Entwicklung befindet. Die Medien berichten darüber, die sozialen Medien sind wahrscheinlich voll davon. Ich sage «wahrscheinlich», weil ich selbst in den sozialen Medien nicht so aktiv bin, aber jugendliche Menschen sind es. All diese Ereignisse, die weltweit stattfinden und welche die Schweiz direkt oder indirekt mitbetreffen – die Inflation, die Teuerung, die Krankenkassenprämienerhöhungen, die Migration – führen dazu, dass sich die Menschen momentan keine bessere Zukunft vorstellen können.
Diese negative Sichtweise ist bei Jugendlichen besonders ausgeprägt. Ist dies auf die kleinere Lebenserfahrung zurückzuführen?
Das ist ein Punkt. Jugendliche haben noch nicht die Erfahrung gemacht, dass man Krisen bewältigen kann. Oder dass Situationen, die heute negativ sind, nicht unbedingt zwanzig Jahre lang dauern müssen. Bei Jugendlichen geht es auch um das Formen der persönlichen Identität und der Persönlichkeit. Viele stehen vor Fragen zur Familiengründung, zum Job oder zur Lebensgestaltung im Allgemeinen. Viele Entscheidungen stehen an, die angesichts der aktuellen Situation eher für Verunsicherung sorgen. Ich sehe das bei meinen eigenen Kindern. Ich habe meinem Sohn geraten, zur Horizonterweiterung ein Semester im Ausland zu studieren. Meine Frau und ich kommen aus Argentinien, aber unsere Kinder wurden in der Schweiz geboren und sind hier aufgewachsen. Sie haben also schon einen weiten Horizont, weil sie mit Südamerika im Kontakt sind. Aber sie könnten neue Erfahrung machen, wenn sie ins Ausland gingen und dort eine Weile leben würden.
Sie schreiben in der Studie, dass im gesellschaftlichen Leben neue positive Narrative wünschenswerte Zukunftsbilder erzeugt werden sollten, damit sich Menschen verstärkt für die gemeinsamen Ziele einsetzen. Wie könnten solche Narrative konkret aussehen?
Da geht es wirklich um die Frage, welche Wünsche wir allgemein für die Zukunft haben. Wie sehen wir die Welt in 20, 30 Jahren? Wohlwissend, dass wir heute viele Herausforderungen haben – sei es Umwelt, sei es Politik, sei es Wirtschaft. Es geht darum, dass wir uns Gedanken machen, wie beispielsweise die Schweiz, in der wir gerne leben möchten, in Zukunft aussehen kann. Das sind Überlegungen, die wir an den Schulen oder Universitäten sehr konkret durchführen, damit sich die Studierenden überhaupt etwas Besseres vorstellen können. Denn erst, wenn man sich etwas Besseres vorstellen kann, ist man bereit, sich dafür zu engagieren. So entsteht eine Sehnsucht, als Individuum selber etwas beizutragen. Psychologisch, gesellschaftlich und sozial gesehen ist es ganz zentral und relevant, dass man nicht nur die negativen Entwicklungen sieht, sondern Hoffnung schöpft, indem man wieder positive Bilder hat, die man nicht als selbstverständlich oder als wahrscheinlich erachtet. Dank dieser Vorstellung wissen wir, wofür es sich lohnt, zu kämpfen oder sich gemeinsam zu engagieren.
Was hören Sie von den Studierenden, wenn Sie sie einladen, diese positiven Narrative zu entwickeln?
Ich habe mich in meinem Buch «Unsere Hoffnung, unsere Zukunft» sehr intensiv damit beschäftigt. Es gibt ein eigenes Kapitel zu den Narrativen der Studierenden. Da geht es weniger um eine wettbewerbsorientierte, leistungsorientierte, sich stets beschleunigende Welt, sondern um eine Welt, in der man viel mehr Rücksicht aufeinander nimmt, in der die sozialen Beziehungen und die gemeinsamen Werte eine viel grössere Rolle spielen. Bei meinen Studierenden sehe ich, dass sie zwar auch erfolgreich sein wollen und dass Leistung wichtig ist, aber Erfolg und Leistung müssen auf Werten basieren, die sowohl die Umwelt als auch das Miteinander der Menschen in unserer Gesellschaft berücksichtigen.
Jugendliche scheinen jedoch an der Verwirklichung der eigenen Narrativen zu zweifeln, sonst wären sie hoffnungsvoller.
Das ist das Thema. Einige machen sich gar keine solchen Gedanken, weil sie in den negativen Narrativen stecken, oder sie ziehen sich zurück im Sinne von «das Ganze geht mich nichts an, ich versuche, mich selbst zu optimieren». Wenn man sich sorgt, dass sich das Negative verwirklicht, dann glaubt man weniger an das Positive und bleibt in den negativen Gedanken hängen.
Das hat mich beim Lesen der Studie überrascht: das Auseinanderklaffen der Selbsteinschätzung und der Einschätzung des Ganzen. Drei Viertel der Befragten schätzen sich selbst als gut, liebenswürdig und anständig ein. Gleichzeitig glauben rund 60 % der Personen nicht an Gerechtigkeit in der Welt. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
Das ist unter anderem ein psychologisches Phänomen. Es zeigt, dass man sich selbst positiver betrachtet und positiver einschätzt als die anderen, was den Selbstwert oder das eigene Selbstvertrauen betrifft. Man glaubt auch, dass man es selbst im Leben besser haben wird als der Durchschnitt der Gesellschaft. Das nennt sich Optimismus-Bias oder unrealistischer Optimismus. Das ist in der Wissenschaft bekannt. Wenn das Vertrauen zu anderen Menschen und zu der Welt, die uns eher fremd sind, schwindet, konzentriert man sich eher auf das, was man kennt. Man kennt sich selbst und das eigene soziale Umfeld viel besser als andere.
Im letztjährigen Hoffnungsbarometer schreiben Sie: «Jeder Mensch, der auf eine gute Zukunft hofft, hofft auf etwas, was ihm sinn- und wertvoll erscheint. Erst durch das Erleben eines Lebenssinns kann der Menschen auch in schwierigen Zeiten hoffnungsvoll bleiben.» Der Arzt und Psychologe Viktor Frankl hat nach seinen Erlebnissen in Auschwitz die Fragestellung nach dem Sinn des Lebens umgedreht und geschrieben, dass es nicht so darauf ankomme, was wir vom Leben zu erwarten hätten, sondern darauf, was das Leben von uns erwarte. Er nimmt den Menschen also in die Selbstverantwortung. Kann mehr Selbstverantwortung zu mehr Lebenssinn und – in der Folge – zu mehr Hoffnung führen?
Selbstverantwortung auf jeden Fall. Aber nicht nur Selbstverantwortung für mich, sondern die Verantwortung, die ich für andere Menschen, die Welt oder die Umwelt habe. Das ist jetzt sehr spannend. Die Frage ist: Ist Lebenssinn etwas, was wir erfinden und worauf wir uns fokussieren im Sinne von «Ich suche meinen Sinn im Leben»? Das ist ja das Geläufige, was wir kennen. Frankl sagt ja, dass der Sinn nicht etwas ist, was wir selbst entwickeln, wie es Albert Camus sagen würde, sondern dass der Sinn uns gegeben wird. Da kommt eine geistig-spirituelle Dimension ins Spiel. Frankl sagt, dass wir den Sinn nicht erfinden, sondern entdecken. Wir werden in Situationen gestellt, in denen wir –auch wenn sie uns nicht gefallen – doch einen Sinn entdecken können. Der Sinn wird also der Situation entsprechend vermittelt, und nicht, weil wir ihn selbst erfinden. Wichtig wäre, dass Menschen in den konkreten Situationen, die sich heute ergeben – seien es gesellschaftliche oder persönliche Krisen – nicht nur das Negative sehen, sondern einen Sinn finden, den sie benutzen können, um etwas Gutes daraus zu machen. Wir können aus einer schwierigen Situation eine noch schwierigere machen, oder wir können etwas Besseres machen. Das ist letztendlich die Voraussetzung, damit man einen Sinn findet, sich zu engagieren und etwas Besseres zu erzielen. Die Voraussetzung dafür ist die Hoffnung, dass wir etwas bewegen können – und sei es nur im Kleinen.
Sie fragen in Ihrer Studie nach den Quellen der Hoffnung. Da werden an erster Stelle «schöne Erlebnisse in der freien Natur», «die Unterstützung von Familie und Freunden» oder «Gutes tun für einen sinnvollen Zweck» genannt. So naheliegend und einleuchtend die Antworten sind: Scheinbar fehlt es diesen Quellen an Nährstoff, um hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können. Welche Nährstoffe fehlen, Ihrer Meinung nach?
Es ist das Sich-eins-Fühlen mit einem grösseren Ganzen, das Sich-eins-Fühlen in einer Gesellschaft. Das muss nicht gleich von einer geistig-spirituelle Dimension sein. Es geht darum, zu erkennen, dass man selbst Teil einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, der ganzen Welt ist. Wir haben die Möglichkeit, etwas zu dieser Gemeinschaft beizutragen, damit die Gemeinschaft florieren kann und sich die Gemeinschaft weiter positiv entwickeln kann. Das erlebt man tatsächlich im Alltag, beispielsweise in der Natur, in der man sich in etwas Grösserem eingebettet fühlt, oder im sozialen Umfeld von Familie und Freunden. Nur, wenn diese Momente im Alltag im Gegensatz zu den negativen Nachrichten oder zu den persönlichen Ärgernissen in Studium oder Beruf zu wenig ausgeprägt sind, fühlt man sich von den negativen Erlebnissen überrollt. Das führt dann zu diesem Gefühl der Ohnmacht oder der Perspektivenlosigkeit.
Quellen der Hoffnung, die in einem Zusammenhang mit dem persönlichen Glauben stehen, werden am Schluss der Liste unter «ferner liefen» genannt. Die Kirchen kämpfen gegen Bedeutungsverlust. Lässt sich dieser Bedeutungsverlust bzw. die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft mit dem Verlust auf Hoffnung in eine Korrelation stellen, oder ist diese Annahme zu stark verkürzt?
Ja und nein. Auf der einen Seite gibt es Kompensationsmöglichkeiten. Viele Menschen suchen Hoffnung im familiären oder im sozialen Umfeld, auch in der Gesellschaft. In der Schweiz, in einer sehr individualistischen Gesellschaft, setzt man die Hoffnung auf die eigenen Stärken und Fähigkeiten. Auf der anderen Seite ist erwiesen, dass Menschen, die einen religiösen, spirituellen Glauben haben – insbesondere jene, die an einen gütigen, barmherzigen und allmächtigen Gott glauben –, dadurch mehr Hoffnung verspüren, und dass der religiöse Glaube diesen Menschen viel Kraft gibt, in schwierigen Zeiten weiter hoffen zu können. Sie sind sozialer orientiert, hilfsbereiter und offener gegenüber anderen Menschen. Wir sehen, dass besonders Menschen, die eine Krankheit erleben oder sich in einer persönlichen Krise befinden, auf eine spirituelle Grundlage zurückgreifen, um wieder Hoffnung zu schöpfen. In diesem Zusammenhang merke ich, dass viele Menschen diesen religiösen, spirituellen Glauben nicht mehr erleben. Sie finden aber wiederum gewisse «Surrogate», also Kompensationselemente, wie zum Beispiel der Glaube an das Glück. Wenn ich frage: «Glauben Sie, dass Sie eher Glück oder Pech im Leben haben?», dann sagen die meisten Menschen, dass sie eher glauben, Glück zu haben. Das hängt wiederum mit dem Phänomen zusammen, dass man sich selbst als optimistischer oder besser im Leben wahrnimmt als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und wenn ich dann frage: «Und von wo kommt denn dieses Glück? Was führt dazu, dass man von sich denkt, im Leben Glück gehabt zu haben?» Dann muss man auf eine metaphysische Ebene kommen und sich die Frage stellen, ob es nicht doch irgendwo eine höhere Macht gibt, die es gut mit einem meint. Das ist das Thema Glück. Daneben gibt es die positiven Erfahrungen in der Natur. Auch da fühlen wir ein grösseres Ganzes. Das lässt uns die Rückschlüsse ziehen, dass es etwas geben könnte, was uns Kraft und Energie gibt, gerade in schwierigen Zeiten dranzubleiben und nicht aufzugeben.
Inwiefern könnte die Kirche dazu beitragen, dass junge Menschen gestärkt werden, sich der eigenen Handlungsfähigkeit bewusstwerden und sich mehr zutrauen?
Es gibt mehrere Aspekte. Es ist spannend zu sehen, dass das, was sich junge Menschen wünschen – Geborgenheit, Familie, Sicherheit – alles Themen sind, die im christlichen Glauben im Vordergrund stehen: die gesellschaftliche Geborgenheit, das Miteinander, die soziale Ausrichtung, im Vergleich zur Selbstbezogenheit. Das ist das eine. Das andere ist, dass der christliche Glaube vermittelt, dass es einen liebevollen, allmächtigen Gott gibt, der uns die Grundlage bietet, unser Leben positiv zu gestalten und daraus viel Kraft und Liebe zu schöpfen. Nicht nur für uns selber, sondern auch, damit wir unsere Gesellschaft positiv gestalten können. Wenn die Kirchen wieder diesen Halt geben und vermitteln, dass es letztendlich eben doch eine Instanz gibt, die uns hilft, unsere Krisen und unsere schwierigen Situationen zu überwinden, dann denke ich, dass dies bei vielen Jugendlichen auch eine entsprechende Resonanz erzeugen kann. Das sieht man insbesondere in Freikirchen, wo viele Jugendliche Halt suchen und dort eine Heimat finden. Wenn man hingegen hört, dass Missbräuche stattfinden, dann entsteht natürlich eher mehr das Negative als das Positive, welches man natürlich auch erleben würde, wenn man dabei wäre. Das Positive kommt dann nicht mehr so zum Ausdruck.
Wie hoffnungsvoll blicken Sie selbst in die Zukunft?
Meiner Familie und mir geht es Gott sei Dank gut. Das gibt mir bereits eine sehr gute Grundlage. Ich bin auch ein gläubiger Mensch und insofern sehr verbunden mit der Spiritualität und der Religiosität. Wir sehen in der Geschichte der Menschheit, der Religionen und in den Erfahrungen vieler Menschen, dass wir in der Lage sind, das Negative zu überwinden. Die Geschichte der letzten 500, 600 Jahre zeigt, dass wir in jedem Jahrhundert die grossen Krisen meistern konnten. Sei es die Krise durch die Reformation und die Gegenreformation, sei es die Französische Revolution, seien es die Revolutionen im kommunistischen, sozialistischen Umfeld, seien es Unabhängigkeitserklärungen. Alle grossen Umbrüche konnten gemeistert werden. Und es zeigt sich, dass wir dank Menschen, die sich individuell für die Gerechtigkeit, die Menschenrechte oder beispielsweise gegen die Sklaverei, das Apartheitssystem in Südafrika oder den Bürgerkrieg in Kolumbien einsetzen, diese Themen überwinden konnten. Dass wenige, gar einzelne Menschen es geschafft haben, eine grosse Menge anderer Menschen mitzuziehen: Martin Luther King, Nelson Mandela, Mutter Theresa, Mahatma Ghandi oder Jesus Christus. Sie zeigen, dass wenige Menschen einen Unterschied machen können, wenn sie viele andere mitziehen.
Ein Schlusswort, das Hoffnung macht.
Wenn man von der Kirche spricht, stellt sich die Frage: Glauben wir eher an die Apokalypse oder an das Reich Gottes? Wahrscheinlich wird beides stattfinden, aber nicht die Apokalypse, sondern das Reich Gottes ist das Schlusswort.
21. Januar 2024 | Dani Schranz ›